Anleger lassen sich zu sehr von kurzfristigen Schwankungen an den Aktienmärkten verunsichern. Das verleitet zu Fehlern. Wer sich nicht beirren lässt und langfristig engagiert bleibt, erzielt höhere Renditen.
Von Enrico De Giorgi
Zwei fiktive Anleger, nennen wir sie Herr Müller und Frau Weber, verfolgen beide das gleiche Ziel: Sie möchten aus 100.000 Euro in sieben Jahren mindestens 130.000 Euro machen. Um dieses Ziel zu erreichen, entscheiden sich beide auf Empfehlung eines Vermögensverwalters, 60 Prozent ihres Geldes in Aktien und 40 Prozent in Anleihen zu investieren. Denn eine Aktienquote von 60 Prozent ist erfahrungsgemäß erforderlich, um eine Rendite erzielen zu können, wie sie unsere beiden Anleger anstreben. Der Vermögensverwalter stützt sich dabei auf Prognosemodelle, die langjährige statistische Daten als Grundlage verwenden.
Nach einem Jahr steht der Aktienmarkt allerdings zehn Prozent im Minus und die Depots der Anleger haben jeweils acht Prozent verloren. Herr Müller ist schwer enttäuscht. Er verkauft sofort alle seine Aktien und investiert den gesamten Erlös in Anleihen. Frau Weber ist ebenso enttäuscht, entschließt sich aber, vorerst nichts an ihrem Depot zu verändern.
In den darauffolgenden Monaten erholt sich der Aktienmarkt. Drei Jahre später ist Frau Webers Depot 115.000 Euro wert. Herr Müllers Depot, in dem sich keine Aktien mehr befinden, steht dagegen nur noch bei 95.000 Euro. Entnervt schichtet er wieder um und investiert nun 80 Prozent in Aktien. Diesmal erweist sich seine Entscheidung als richtig: In den folgenden drei Jahren legt der Aktienmarkt um weitere 25 Prozent zu. Trotzdem verfehlt Herr Müller am Ende sein Sieben-Jahres-Ziel deutlich: Sein Depot ist nun 116.000 Euro wert, das von Frau Weber, die bis zuletzt nichts verändert und ihre Aktienquote von 60 Prozent beibehalten hat, dagegen 135.000 Euro. Sie hat ihr Anlageziel nach sieben Jahren also nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen.
Was ist passiert? Herr Müller und Frau Weber verfolgen die gleichen Ziele mit ihrer Geldanlage und haben eine ähnliche Risikoneigung. Eingangs haben sie sich beide auch auf die gleiche Investmentstrategie eingelassen. Doch dann treffen sie während des Anlagezeitraumes unterschiedliche Entscheidungen. Im Ergebnis fällt die Rendite von Herrn Müller am Ende weniger als halb so hoch aus wie die von Frau Weber. Wieso? Beide unterscheiden sich stark in ihrer Risikowahrnehmung, also in ihrer subjektiven Beurteilung des Risikos, das sie mit ihrer ursprünglichen Anlageentscheidung eingegangen sind. So hat Frau Weber bei der Beurteilung des Erfolgs ihrer Anlage immer den Sieben-Jahres-Horizont im Auge. Herr Müller dagegen achtet zu sehr auf die kurzfristige Entwicklung seines Portfolios. So kommt er nach dem ersten Jahr zu dem Schluss, dass die von ihm eingangs gewählte Strategie viel zu riskant ist.
Herrn Müllers Verhalten ist ein unter Anlegern weit verbreiteter Fehler. Viele wissen nicht (oder blenden es aus), dass das Verlustrisiko bei Aktien umso höher ausfällt, je kürzer der Anlagezeitraum ist. Historisch betrachtet liegt die Wahrscheinlichkeit einer negativen Performance bei einer Anlage zum Beispiel im US S&P 500-Index über sechs Monate bei 30 Prozent, über ein Jahr bei 25 Prozent, über fünf Jahre bei nur noch 14 Prozent und über zehn Jahre sogar bei nur noch sechs Prozent. Das bedeutet im Umkehrschluss: Je länger ein Anleger am Aktienmarkt investiert bleibt, umso geringer ist sein Verlustrisiko. Doch die wenigsten Privatanleger halten sich an diese im Prinzip simple Regel, die nicht viel mehr als ein langes Durchhaltevermögen erfordert.
Wie sehr sich viele Anleger stattdessen von kurzfristigen Schwankungen leiten lassen, zeigt auch eine Analyse des Gallup-Instituts. Demnach besaßen im Jahr 2007 noch 65 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner Aktien. Doch dann brach die Finanzkrise aus und die Aktienkurse gaben innerhalb von wenigen Monaten um 20 Prozent nach. Das verunsicherte viele Anleger dauerhaft und sie trennten sich von allen ihren Aktien. Die Folge: 2016 lag die Aktionärsquote in den USA nur noch bei 52 Prozent. Doch diejenigen, die ihre Aktien verkauft haben, hatten einen Riesenfehler begangen: Denn zwischen März 2009 und Mai 2017 konnte sich der Dow-Jones-Index mehr als verdreifachen. Auch andere Studien belegen, dass Anleger im Schnitt nicht länger als vier Jahre an ihren Aktien festhalten. Nach außerordentlich guten Börsenjahren ist der durchschnittliche Haltezeitraum etwas höher, nach schlechten Börsenjahren ist er niedriger.
Die Statistik zeigt also: Der durchschnittliche Privatanleger bleibt nicht lange genug am Aktienmarkt investiert, um seine Früchte in vollem Umfang zu ernten. Und: Bei ihren Investmententscheidungen lassen sich Anleger vor allem von der jeweils jüngsten kurzfristigen Kursentwicklung ihres Depots oder des allgemeinen Aktienmarkts leiten. Sind die Kurse gerade kräftig gestiegen, neigen sie dazu, zu kaufen. Hat die Börse gerade eine Schwächephase erlebt, stehen die meisten Anleger dagegen auf der Verkäuferseite.
Anders gesagt: Anleger orientieren sich bei ihren Entscheidungen zu sehr an der kurzfristigen Kursentwicklung und zu wenig an der fundamentalen Bewertung der Aktienmärkte und auch zu wenig an ihren eigentlichen Anlagezielen. Im Ergebnis erzielen Privatanleger, die selbstständig am Aktienmarkt aktiv sind und häufig ihr Depot umschichten, in der Regel schlechtere Ergebnisse als andere, die einfach nur über einen langen Zeitraum breit gestreut im Markt investiert bleiben – wie zum Beispiel mit Indexfonds (ETF) oder einer professionellen Vermögensverwaltung.
Die Erklärung ist tief in unserer Psychologie verankert
Eine Erklärung für dieses Anlegerverhalten liegt in der bei Menschen weit verbreiteten und eigentlich positiven Eigenschaft begründet, komplexe Probleme zu lösen, indem sie in mehrere einfachere Unter-Probleme aufgespalten und unabhängig voneinander behandelt werden. Die Gefahr ist jedoch, dass dabei der Blick für das große Ganze verloren geht. Genau das ist unserem Anleger, Herrn Müller, passiert. Statt sein Sieben-Jahres-Renditeziel im Auge zu behalten, hat er lediglich auf seine kurzfristige jährliche Rendite geachtet. Auch hat er lediglich seine Aktienposition gesehen und sie nicht in den Kontext seines Gesamtportfolios eingeordnet. Dadurch hat er seine Aktienposition als für ihn zu riskant und deshalb als nicht mehr angemessen eingeschätzt.
Was Herrn Müller zusätzlich verunsichert haben dürfte: Mit einem angestrebten Wertzuwachs von mindestens 30 Prozent in sieben Jahren hat er sich ein relativ ambitioniertes Ziel gesetzt. Das kann durchaus nachvollziehbare und plausible Gründe haben. Denn wer bei der Geldanlage das Erreichen eines Zielbetrages in einer bestimmten Höhe zu einem genauen Zeitpunkt anstrebt, tut das in der Regel, weil er damit ganz konkrete Pläne verfolgt. So ist dann womöglich eine Renovierung des Eigenheimes notwendig, das Studium des Nachwuchses muss finanziert werden oder es soll damit eine Sofortrente bezahlt werden, die ein lebenslanges Festeinkommen garantiert, wenn zum Beispiel das Arbeitsentgelt wegfällt.
Das Enttäuschungspotenzial für Herrn Müller war also von Anfang an hoch. Denn würde er sein Anlageziel verfehlen, wäre das gleichbedeutend mit einem Scheitern seiner Anschaffungs- oder Finanzierungspläne. Ein etwas bescheideneres Anlageziel mit einem eigentlich immer noch beachtlichen Zuwachs von 20 Prozent zum Ende der Laufzeit zum Beispiel wäre für ihn nicht akzeptabel gewesen. Die Realisierung dieses reduzierten Ziels hätte er als Verlust von zehn Prozent wahrgenommen. Denn angestrebt – und fest eingeplant – wird von ihm ja ein Zuwachs von 30 Prozent. Als sein Depot nach einem Jahr acht Prozent im Minus notierte, sah er deshalb seine Felle davonschwimmen. Auch das veranlasste ihn, wahrscheinlich in einem Anfall von Panik, vorzeitig die Reißleine zu ziehen und sich von allen Aktien zu trennen. Anleger, die es klüger anstellen wollen als Herr Müller, können daraus eine wichtige Erkenntnis ableiten: Sie sollten sich stets nur realistische und keine übertriebenen Ziele setzen und auch dann an ihrer ursprünglich gewählten Strategie festhalten, wenn diese zwischenzeitlich nicht ganz aufzugehen scheint.
Dieser Artikel ist am 25.06.2017 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.